IRENE BISANG
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2008: „Schneckentraum“ von Irene Bisang
 
Sie habe tatsächlich von einem Frauengesicht, über das Schnecken kriechen, geträumt, sagt Irene Bisang. Doch es ist nicht ihr eigenes Gesicht, und so gibt es hier keinerlei Anlass zu psychologisierenden Interpretationsversuchen. Die Malerei sei so genommen, wie sie ist. Man muss – am besten allein – ganz nahe hinzutreten, denn sonst entgehen die Details, die den Reiz der Malerei ausmachen, der Wahrnehmung. Diese Nähe des Intimen liegt durchaus in der Absicht Irene Bisangs, die in ihren ersten Ausstellungen – in Galerien in Frankfurt und Berlin, aber auch in der Jahresausstellung 2008/09 im Kunstmuseum Luzern – durchwegs Klein- oder gar Kleinstformate zeigte und sie, sorgfältig und wie kleine Kostbarkeiten gerahmt, stets in freier Anordnung als Ausfaltung ihrer privaten Bilderwelt auf der Wand präsentierte.

Der Bildhintergrund ist, in Braun- und Blautönen und mit wenig Lila durchsetzt, wolkig dunkel gemalt und deutet auf einen tiefen Raum hin. Davor sehen wir eine junge Frau mit hellbraunem, von blonden Strähnen durchsetztem Haar. Das von links einfallende Licht modelliert ihr scharf geschnittenes, schön proportioniertes Gesicht. Die blauen Augen blicken dem Betrachter offen entgegen. Die Frau trägt eine beige Bluse mit V-Ausschnitt. Irene Bisang malte das Kleid in breiten, deutlich sichtbaren, horizontal geführten Pinselstrichen, verwendete im Gesicht jedoch viel feinere Pinseln, die jedes Detail plastisch in Erscheinung treten lassen. Die Präzision der Malerei, die Unmittelbarkeit des Blickes, aber auch der Lichteinfall lassen vermuten, dass sich die Malerin einer Fotografie als Vorlage bediente. Mit Fotografie hat aber das Folgende nichts zu tun: Über das Gesicht, über den Hals und übers Kleid kriechen Schnecken – zwölf insgesamt. Die meisten strecken die Fühler aus. Einige haben sich ins Häuschen zurückgezogen. Andere sind Nacktschnecken.

„Schneckentraum“ – so der Titel der Malerei – verweigert die Auskunft darüber, warum die Schnecken übers Gesicht der hübschen jungen Frau kriechen. Die Malerei löst aber unweigerlich die Frage aus, wie sich denn der schleimige Kriechgang der Schnecke auf der Gesichtshaut anfühle. Die Schnecke ist ein häufiges Motiv der Kunst – ob in der Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts, in surrealistischen Methoden der Bildfindung, im Schaffen von Mario Merz oder in den Fotografien von Balthasar Burkhard, aber Vergleiche helfen uns im Falle des „Schneckentraums“ nicht weiter. Vielleicht tut das ein Blick auf andere Arbeiten von Irene Bisang. Die Präsentation in losen, aber doch sehr präzise konzipierten Gruppen schafft Gelegenheit, sich aufs Einzelne zu konzentrieren und sich zugleich im freien Springen des Auges vom einen zum anderen zu bewegen und dabei von der Künstlerin gegebene Zusammenhänge wahrzunehmen oder eigene Verbindungen herzustellen.

Die Themen Irene Bisangs gehorchen, ähnlich wie ihre Anordnung der Bilder auf der Wand, keiner zwingenden logischen Abfolge. Ein Konzept, wenn es denn eines gibt, besteht – vom Kleinformat abgesehen - eher im Disparaten und Zufälligen oder im spontanen und kaum rational begründbaren Entscheid für diesen oder jenen Bildgegenstand. Dass sie ganz Verschiedenes neben einander malt, mag auch mit der Jugendlichkeit der Künstlerin – sie ist, als „Schneckentraum“ entsteht, 27 Jahre alt – zusammenhängen. Es ist möglich, dass sie sich viele Wege offen hält und sich nicht von den Folgen eigener Entscheide einengen lassen will.

Ihre in Öl auf Holz, Leinwand oder Papier gemalten Bilder nach Fotos zeigen Situationen in ihrer Wohnung – einen Mann, der am Fenster steht und sich im Glas spiegelt, eine junge Frau, die Künstlerin selber, welche die Wäsche auf dem Ständer ordnet, wiederum eine junge Frau, dieses Mal nicht die Künstlerin, in der Küche. Warum diese Themen? Die Gründe können sehr unterschiedlich sein – vielleicht malte Irene Bisang diese Bilder wegen der Atmosphäre, wegen des Lichtes, der Stofflichkeit, vielleicht aus dem Gefallen an der schlichten Alltäglichkeit. Rasch auf vergilbtes altes Papier hingeworfene Aquarelle schildern Beziehungen zwischen zwei Menschen: Streit, intimes Flüstern, die stürmische Begrüssung zweier junger Menschen, ein Mädchen mit einem Kind auf den Knien. Das sind nicht gesehene, sondern gedachte Szenen. Die spielerisch auf ein mit Spinnnetzmuster versehenes Albumpapier gesetzte Malerei nimmt das vorgegebene Ornament auf und spinnt es poetisch weiter. Hier ist Formales der Auslöser. Andere Malereien zeigen so Absurdes wie einen mit Glühlampen bestückten Knochen, eine Frau, die auf einem riesigen Knochen sitzt, oder eine geflügelte Fee, die mit der Axt auf ein Mitleid erweckendes Sparschweinchen einschlägt – oder eben die Schnecken, die über das Gesicht der jungen Frau kriechen. Doch merkwürdig: Die selbstverständliche Schönheit der Malereien lässt die Absurdität des Gezeigten vergessen.

Wahrnehmung verläuft zu Beginn des 21. Jahrhunderts in rasantem Tempo. Treibend bis zur flüchtigsten Oberflächlichkeit sind dabei Internet, Digitalkameras, die ganze Entwicklung der Elektronik. Irene Bisang stellt sich in ihrer Arbeit quer zu diesem Wahrnehmungstempo. Die Präzision ihrer Bilder erfordert eine intensive Zuwendung der Künstlerin zur Malerei und ihre konzentrierte Aufmerksamkeit, der nichts entgehen darf. Wohl bedient sie sich der Fotografie, um die jungen Leute am Küchentisch oder die Wäsche auf dem Balkon festzuhalten, denn ihr Interesse richtet sich auf eine ganz bestimmte Situation und nicht auf ihre Veränderung. Im langsamen und stetig fliessenden Prozess des Malens nach diesen Fotos und in der unablässigen Konzentration des Auges auf die kleine Bildfläche – in der Dauer also entwickelt die Wahrnehmung erst ihre Qualitäten, die sich auch auf die Betrachter übertragen und das Betrachten des Bildes zum Seherlebnis machen. Das hat auch Gültigkeit, wenn Irene Bisang nicht Gesehenes, sondern Gedachtes malt. Irritierender als das Mädchen, das sich auf den riesigen Knochen setzt, oder als die Schnecken im Gesicht der jungen Frau ist vielleicht dieses klare Bekenntnis der Malerin zur Langsamkeit. Ihr Malen wird im Umfeld des ersten Jahrzehntes des 21. Jahrhunderts zur Anti-Wahrnehmung. Oder sagen wir es umgekehrt: Mit ihrer Malweise stempelt sie die übliche Wahrnehmungspraxis zur Anti-Wahrnehmung.

Und Irene Bisangs „Schneckentraum“? Von ihm kann das gleiche gelten wie von anderen ihrer Kleinformate. Die Malerin erzählt mit ihrem Bild sich selbst eine Geschichte. Jenen Betrachtern, die sich die dazu erforderliche Zeit schenken, gibt sie den Anstoss, die Entdeckungen im Bild zur eigenen Geschichte fortzuspinnen. Vielleicht bleiben beide Geschichten ihre Geheimnisse.

Erschienen in „51 Bilder aus der Zentralschweiz 1972-2008“ von Niklaus Oberholzer, erschienen im Verlag Edizioni Periferia, Luzern und Poschiavo 2009