IRENE BISANG
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Die intimie Weitsicht von Irene Bisang
 
„Wenn die Mädels rote Schuhe tragen/ und der Westwind küsst ihr / Haar ja dann ist der / Sommer da!“

Graffiti in der U-Bahn Station Holzhausenstraße,
Frankfurt am Main, 30. Mai 2005
Es gibt eine verschollene Arbeit von Pier Paolo Calzolari aus dem Jahr 1969/70. Der Titel, einem Lied der Rolling Stones entliehen, lautet: „Duemile lunghi anni lontana da casa“ (zweitausend lange Jahre von zu Hause weg). Zwei aus gewalzten Bleiblättern geformte Kegel, etwa vierzig Zentimeter hoch, befinden sich ungefähr zwei Meter von einander entfernt. Ein Draht verbindet die Kegelspitzen. In der Mitte hängen zwei Glöckchen aus Silber. Der Rolling Stones-Text in Form von ausgestanzten Bleibuchstaben liegt auf dem Boden zwischen den beiden Kegeln. – Es war die Zeit der Arte Povera. Die Arbeit war 1970 im Kunstmuseum Luzern zu sehen, anlässlich der Ausstellung „Processi di pensiero Visualizzati“. Es sei, so sagte mir damals der Künstler, der Schmerz von Frau und Kindern getrennt zu sein. Die Glöckchen hätte er anlässlich von deren Geburt anfertigen lassen. Calzolari war damals 27 Jahre alt. – Wer hätte gedacht, dass im Rahmen einer minimalistischen Materialkunst eine derart intime Botschaft möglich sei?

In einer Collage mit Gouache auf Papier („Flüsterblume“, 2006, 15 x 21 cm) stellt Irene Bisang in weißer Schrift, eher schüchtern und verspielt, die Frage: „What will / happen / with the knowledge / about human history / in 200 million / years ? / ???“
Irene Bisang, Jahrgang 1981, war 2006 25 Jahre alt. Elf Jahre nach der erwähnten Luzerner Ausstellung wurde sie in Luzern geboren. – Die Arbeit zeigt eine Blume, umgeben von Edelsteinen. Wie eine Wolke schiebt sich eine ovale schwarze Fläche über den Stiel der Blume Darin sind weiß ausgesparte Knochen zu sehen.
Mit Calzolari verbindet Irene Bisang die Frage, die Peter Høeg in seinem vielleicht schönsten Buch „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ (München 1995) gestellt hat: „Was ist Zeit?“. Es ist ein Buch über die Zeit der Kinder und der Kindheit und darüber, was sie mit uns heute verbindet. Eine Frage vielleicht auch aus der Erfahrung gestellt, dass nämlich jede Kunst aus der Erinnerung kommt und die Aufgabe des Künstlers darin besteht, sie in der Gegenwart zu verankern.

Dem verschlüsselten Trennungschmerz im Werk von Calzolari antwortet Irene Bisang mit Erzählungen, deren bildhafte Verdichtung einem kurzen Aufleuchten im Dunkel der Erinnerung gleicht oder, stärker noch, einer plötzlichen Eingebung folgt. Dieses Zeitgespinst, das ihr Schaffen durchmisst und durchquert, konkretisiert sich in Begebenheiten, in Empfindungen, in Momenten des Geschauten und Erschauten.

Eines Tages wird sich Europas schönster Gletscher, der Aletschgletscher, so weit zurückgezogen haben, dass Weideland für Schafe entstanden sein wird („Schafherde“, Bleistift und Farbstift, 2007, 21 x 14,7 cm). Das leise lächelnde Mädchen, das die übergroße Puppe liebevoll umfasst, imaginiert die noch ferne Mutterschaft („Mädchen mit Puppe“, 2006, 10,5 x 14,8 cm). Ein Junge mit schulterlangen Haaren, der einem Jungendlichen mit Kapuzenpullover begegnet, sagt zu ihm: „Ich bin 1728 / geboren und / Sie?“ („Ich bin 1728 geboren“, 2006, Tusche, 20,9 x 14,7 cm) Und dann, dieser Mann im Anzug mit Krawatte – ein Brustbild – mit dem Text und dem Titel: „In der Zeit ist Staub gefallen“ (2006, Tusche, 9 x 9 cm), – Irene Bisang spricht von einer Bewusstseinsform der Zeit, die der Mensch über schier unendlich viele Generationen stets von neuem mit seinem eigenen Bewusstsein als gelebte und erlebte Zeit verkörpert. (Der Mathematiker und Philosoph David Chalmers hat in „The Conscious Mind“, 1996, darüber nachgedacht. „Vielleicht“, sagt er, „ist Bewusstsein eine ähnliche fundamentale Eigenschaft wie Raum und Zeit, und vielleicht gibt es fundamentale Gesetzte, die diese mit den physikalischen Eigenschaften verbinden.“

In einer Gouache auf Albumpapier („On a summerday“, 2007, 12,7 x 17 cm) finden sich verstreut die Worte: „On a summerday my great-great-great grandson found a picture of me (I don’t look good on it)“. Das Albumpapier besitzt im Prägedruck eine Struktur aus Spinnennetzen. Die Künstlerin hat eine große schwarze Spinne in dieses von blass-farbigen Splittern durchsetzte Blatt gemalt. Die Spinne sitzt im Zentrum eines der Netze. Vielleicht hat sich Irene Bisang an Louise Bourgeois, die heute 96 Jahre alte Künstlerin, und ihre Spinnen erinnert. Sie schaut das Foto an, das der Urururenkel ihr zeigt. Der Spiegel ist zersplittert, das Werk in ihr ist wach. Für einen Künstler ist rückblickend die im Werk verkörperte Zeit eine ganz andere als die biografische. Aber es gibt Momente, wo die biografische Zeit deshalb so wichtig ist, weil sie Fragen nach dem Da- und dem Sosein stellt. Der Junge, der sich im Spiegel betrachtet, sieht sich zwar synchron, und dennoch mögen Welten zwischen seinem Erscheinungsbild und seinem existenziellen Befinden liegen („Spiegelung“, 2006, Aquarell, 15,5 x 19,7 cm).

Aus dem Mädchen mit einer übergroßen Puppe ist eine junge Mutter mit Kind geworden („o. T.“, 2007, Aquarell, 12,7 x 17 cm). Das Gebärdenspiel, die Mimik ist Teil einer Sprache, die sich in und mit der Zeit als Bewusstseinsprozess formt. Ja, und es gibt den Streit („Streit“ I und II, 2006, Aquarelle, beide 20,9 x 14 cm): Ein Ausbrechen aus der Zeit, ein Bruch in der Zeit, wie Ordnung und Unordnung, wie das wirbelnde Verwischen im zen-buddhistischen Ziergarten, mit dem Ziel, das Ordnungsmuster wieder präzis herzustellen. Gemalt sind die Blätter wie im Zorn, aber in jenem verhaltenen, konzentrierten Zorn, der eine Form zwischen Schattenriss und Piktogramm zulässt.

Das Mädchen, das auf einem Knochen sitzend, melancholisch mit den Haaren spielt, erinnert an den Jungen im Spiegel, an die „Flüsterblume“, an den Vanitas-Gedanken im Barockzeitalter. Aber vielleicht ist es auch ganz konkret gemeint, zum Beispiel Zukunftsperspektiven: Keine Lehrstelle, „die Menschen werden immer älter“, Rente, Pflegeversicherung ... Wenn jungen Menschen ständig eingebleut wird, für ihre Zusatzrente zu sorgen, kann dies durchaus ein verängstigender Zeitensprung sein. Sterben tun wir alle, aber die Stauchung des mäandernden Lebens in eine lineare, organisatorische Dauer, erscheint zwar nicht als Widerspruch, sondern als eine eingeforderte Form von Selbstzensur („Mädchen auf Knochen“, 2006, Öl auf Papier, 21 x 15 cm). Ganz anders das den Kopf wendende Mädchen – zwinkert es mit dem Auge? – das seinen Rücken frei macht, auf dem ein Unendlichkeitszeichen als weißes Tattoo zu sehen ist. Nicht: I love you forever, sondern: I am forever. So neckisch die Darstellung auch sein mag, das ?-Zeichen geradezu plakativ aufgesetzt, kann die Entgrenzung von Zeit als Verkörperung der Zeit verbildlichen („Weißes Tattoo“, 2006, Aquarell und Gouache, 15 x 21 cm).

Im Schlaf und im Träumen werden Raum und Zeit durcheinander gewürfelt. Die Träume gehören zum geheimnisvollsten im Leben. Sie tun etwas mit uns, von dem wir keine Ahnung haben. Wir schauen auf das schlafende Mädchen durch eine Art postmoderne organische Fensterstruktur. Es ist, als würden die geschwungenen Formen dem Blondschopf mit Rossschwanz und angezogenem Bein besingen, einlullen und gefangen halten („o.T., 2007, Aquarell, 14,9 x 18,8 cm).

So viel Eier gibt es nicht in einem Nest (außer an Ostern). Hat eine Mutation stattgefunden? Was bringen diese Eier zum Vorschein? Wie kann man so viele Eier ausbrüten? Müssen sie überhaupt noch ausgebrütet werden? Ich habe nachgezählt: es sind deren zwölf. Gibt es eine Zahlenmystik? Das Werk („Nest“, 2006, Öl auf Papier, 10,5 x 14,8 cm) erinnert mich an „Schafherde“. So hingebungsvoll das Bild entstanden ist, es birgt ein Ungewisses, eine schleichende Veränderung. Etwas geschieht, man nimmt es nicht wahr, und plötzlich ist es da: Die biologische Zeit als Bewusstseinsform der Natur, diese kleinsten Veränderungen in Form einer Unterwanderung, die irgendwann Auswirkungen zeigen, die man nicht ahnen wollte.

Und dann gibt es den Alltag. Diese Momentaufnahmen. Dann, wenn man an alles und nichts denken kann. Die junge Frau, die auf dem Klo sitzt. Die Frau, die, wie in einem Türdurchblick von Menzel, in der Küche steht, etwas zubereitet. („o. T. [Küche]“, 2007, Öl auf Holz, 15 x 20 cm). Der junge Mann in Jeans auf einem billigen Plastikstuhl sitzend, den Ellbogen auf dem Knie, das Kinn in die Hand gestützt, eher nachdenklich, vielleicht auch missmutig sinnierend: „Weshalb haben wir schlecht gevögelt? Lag es an mir?“ – ein auf Holz gemaltes Ölbild von 2007 („o. T.“ [Balkon], 17 x 23 cm) . Diese Momentaufnahmen, die stets die Dauer beinhalten, diese durch und durch gelebte Dauer, wie die Wäsche, die mit Türdurchblick auf dem Balkon mit Klammern an einem roten Plastikseil befestigt ist („Wäsche“, 2007, Öl auf Holz, 16 x 15 cm), oder in einem Zimmer auf einem zusammenklappbaren Trockner über den Schnüren hängt. Eine junge Frau begutachtet eines der Wäschestücke („o. T. [Wäsche], 2006, Öl auf Holz, 20 x 25 cm). Diese Wäschestücke sind nicht zufällig: Sie wurden getragen, belebt durch die Spuren des Körpers und der Arbeit, wurden gewaschen, trocknen, vielleicht wird ein Loch wird gestopft, wird eine Naht genäht, sie werden je nach bedarf gebügelt. Das ist ein Transformationsvorgang und sagen wir es mal so: auch ein ökologischer Prozess, wenn wie wissenschaftlich belegt wurde, die Herstellung eines einzigen Baumwollleibchens von der Bewässerung der Felder bis zum Endprodukt an die hundert Liter Wasser erfordert. Auch das ist Zeit. Die Zeit ist ein Nager, sie erodiert. Und gleichzeitig gibt es den alles überwältigenden Lebenshunger. „Happy“ heißt ein 6 x 8 cm großes Bild in Öl auf Leinwand gemalt aus dem Jahr 2007. Die junge Frau lacht ein glückliches Lachen. Der Wind fegt ihr durchs Haar, bläst es zur Seite.

Weshalb saugt das kleine Mädchen mit dem Staubsauger die vielfarbigen Schmetterlinge auf? Ich denke, weil diese nicht weniger das Produkt eines Transformationsprozesses sind: Als Raupen sind sie Schädlinge, als Schmetterlinge erfreuen sie unser Gemüt. Vielleicht hat das Mädchen in der Schule etwas über Schädlinge gelernt. Einst gab es die mit ihren Netzen ausziehenden Schmetterlingsfänger. Ihre Beute können wir noch heute in Vitrinen naturkundlicher Museen betrachten. Das war einmal. Vielleicht will uns Irene Bisang einfach sagen, wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten („o. T., 2006, Aquarell, 10,5 x 14,8 cm).
Ordnung und Unordnung verhalten sich wie der Zufall zur Gesetzmäßigkeit. Sie gehören zu den Grundprinzipien des künstlerischen Schaffens. Im Prozess des Ähnlichen und Verschiedenen wiederholen sich Muster in Zeit und Raum. Wenn Irene Bisang Tropfen malt, dann ist nicht das Vergängliche angesprochen. Die Konstellation hat etwas definitves, auch dann, wenn sie ganz anders hätte ausfallen können. Die Tropfen sind erhaben, geronnen, werfen einen Schatten. Zum einen könnte es ein Spiel sein: auf eine Fläche eine konsistente Flüssigkeit tropfen zu lassen, zum anderen beschleicht einen auch ein Unbehagen. Man stelle sich vor, der Regen schleimt, gerinnt („Tropfen“, 2007, Öl auf Holz, 16 x 21cm) – Es ist diese Zweideutigkeit, die das Schaffen von Irene Bisang durchwegs charakterisiert.

Mandarinenschnitze, die so angeordnet sind, als wäre es eine Skulptur von Richard Long („Mandarinen“, 2006, Öl auf Holz, 25 x 20 cm). Es gäbe unendlich viele Möglichkeiten einer Anordnung. Jedoch ist es das Jetzt, die unmittelbare Gegenwart einer Plötzlichkeit. – Und etwas kommt hinzu: Nach getaner Arbeit zerfließen diese Mandarinenschnitze auf dem Gaumen. Das Konstrukt geht lustvoll in den Körper über.

Was die Arbeiten von Irene Bisang so überzeugend macht, ist ihre Glaubwürdigkeit, diese bis in die feinsten Regungen durchgestaltete Bildidee. Der malerische Duktus erfüllt ihre Figuren mit Leben: Sie atmen, sind sich selbst.

Von Peter Høeg und seinem Buch war die Rede. Ich möchte ihn zitieren, wie er die Zeit, die uns Irene Bisang so wunderbar nahe bringt, empfindet und sieht.
Er schreibt:
„Um die Zeit wahrzunehmen und von ihr zu sprechen, muss man merken, dass sich etwas verändert hat. Und man muss merken, dass es in oder hinter dieser Veränderung etwas gibt, was auch vorher da war. Die Zeitwahrnehmung ist die unerklärliche Vereinigung von Verwandlung und Unveränderlichkeit innerhalb des Bewusstseins.
Im Leben von Menschen, in deinem und in meinem, gibt es lineare Zeitabläufe, mit und ohne Anfang und Ende. Zustände und Epochen, die auftauchen, mit oder ohne Vorwarnung, und danach vorbei sind und nie mehr wiederkommen.
Und es gibt Wiederholungen, Zyklen: schlechte und gute Zeiten, Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Ablehnung. Sie türmen sich immer wieder auf und sterben ab und kehren zurück.
Und es gibt Blackouts, das vorübergehende Aufhören von Zeit. Und es gibt Zeitbeschleunigungen. Und plötzliche Zeitverzögerungen.
Es gibt eine überwältigend starke Tendenz dazu, wenn Menschen zusammen sind, eine gemeinsame Zeit zu bilden.
Und es gibt alle erdenklichen Kombinationen, Mischformen und Übergangzustände zwischen all diesen.
Und es gibt aufblitzende Erlebnisse von Ewigkeit.“


Jean-Christophe Ammann